Sound of silence

Es ist schwierig, übers Hören ohne Ohren zu schreiben. Es ist ein Widerspruch. Wie soll man es nennen? Phantomhören? Analog zu Phantomschmerzen? Aber anders als bei Phantomschmerzen, bei denen man etwas spürt, das gar nicht mehr ist, ist das, was man „phantomhört“, durchaus da.

Ich weiss von anderen Spätertaubten, dass sie auch noch nach Jahren genau wissen, wie es klingt, wenn man im Herbst durch den Wald läuft. Man spürt das Rascheln des Laubes, man sieht wie sich das Laub bewegt, und im Hirn wird das entsprechende Geräusch abgerufen. Ohne Verzögerung. Perfekt choreographiert.

Es geht aber noch weiter. Auch ohne hören, kann man neue Geräusche lernen, wie das leise Klicken der Tastatur eines Computers. Und auch Stimmen, was für mich das Erstaunlichste ist. Ich frage mich immer noch, wie das Hirn das macht. Die meisten, mit denen ich jetzt umgehe, habe ich erst nach meiner Ertaubung kennengelernt. Jeder, ohne Ausnahme, hat seine eigene Stimme. Manchmal „höre“ ist sie sofort. Manchmal dauert es etwas länger.

Es ist ja bekannt, dass das Hirn verlorene Fähigkeiten kompensieren kann. Faszinierend. Erst recht, wenn man es dann selber erlebt. Es ist ein Prozess, der schon vor der endgültigen Ertaubung begonnen hat. Mir ging das jedenfalls so. Wie ich jetzt sehe. Meine Schwerhörigkeit nahm zu, und während dieser Zeit, sprang mein Hirn ein, so gut es konnte. Und mit der Zeit war es mir nicht mehr möglich zu unterscheiden, ob ein Ton, ein Geräusch durch mein Ohr ins Hörzentrum gelangt, oder aus dem Hörgedächtnis abgerufen wurde.
Das hatte zur Folge, dass ich den Zeitpunkt bzw. Zeitraum (natürliche Prozesse sind selten linear) der Ertaubung verpasst habe. Und so auf die Frage, seit wann ich denn nichts mehr höre, nie so recht weiss, was ich antworten soll.

Neben der Frage nach dem wann, kommt auch die Frage nach dem „wie lebt es sich damit“ auf. Meine erste Reaktion bzw. Antwort darauf war: Mühsam, natürlich. Und es vergeht kein Tag, an dem man seine Ohren nicht zurück wünscht. Und so weiter.
Aber wenn man das Offensichtliche mal weglässt, ist es recht Interessant.
Übernahm das Hirn früher einen Teil des Hörens, übernimmt es jetzt alles, im Rahmen des Möglichen natürlich. Und im Laufe der Zeit entsteht eine neue Art von Hören, die mit der ursprünglichen wohl nicht mehr viel zu tun hat.
Wären die Augen zum Beispiel im Infraroten Bereich empfindlich, sähe die Welt anders aus. Übertragen aufs Hören bzw. Nicht hören könnte das heissen: Ohne äusseren Input verschiebt sich das Hören in einen anderen Frequenzbereich. Und die Welt tönt anders.

Gestern Abend sass ich zehn Minuten auf der Dachterrasse. Es war kalt und es wurde recht schnell dunkel. Als ich hinauskam konnte ich die stille körperlich fühlen. Es war eine Wohltat. Von ein Paar Ohren weiss ich aber, dass es gar nicht so still ist. Der Ventilator macht einen recht grossen Lärm. Aber ich sehe ihn nicht und ich spüre ihn auch nicht, also gibt es ihn nicht.
Während der kurzen Zeit flogen zwei Flugzeuge über meinen Kopf in Richtung Flughafen Belp. Sie fliegen hier nicht so tief wie südlich, in Muri, wo die Maschinen direkt übers Haus donnerten. Und jedes Mal in den drei Monaten meines Aufenthalts dort in einer christlichen WG (gleich gegenüber der nordkoreanischen Botschaft) zog ich reflexartig den Kopf ein.
Man kann den Motor hier aber schon recht gut hören. Sagt man. Aber für mich existiert dieser Lärm nicht. Dafür „höre“ ich die blinkenden Lichter an den Flügeln. Zwei recht hohe Töne, die sich abwechseln. Denn, was sich bewegt, erzeugt für mich ein Geräusch.

Die Welt ohne Ohren mag seltsam sein, und frustrierend, ermüdend, überraschend und noch vieles mehr. Nur eines ist sie ganz bestimmt nicht: still.

Tea for two

Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich diesen Titel schon mal verwendet. Damals, als Boris und ich mit auf Seite namens „silencekick“ - der Name macht genau so viel Sinn wie „rote socke“, also gar nicht. - Diverses ausprobierten. Wobei er sich darauf konzentrierte, das Layout ständig zu ändern. Und ich, ich versuchte es mit Schreiben. Nach gut einem halben Jahr begruben wir das Projekt. Es war eh nie für die Ewigkeit gedacht, nicht mal annähernd. Und mit ihm verschwand auch „Tea for two“. Ich hatte die Texte nicht aufbewahrt.
Es ging da um das abendliche Tee trinken zusammen mit Andi, meinem polnischen Arbeitskollegen. Wir liefen uns immer wieder mal über den Weg, an Kongressen oder Workshops. Aber das Tee trinken etablierte sich erst, als wir zur gleichen Zeit als Gäste am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung arbeiteten. In der südniedersächsischen Provinz, nordöstlich von Göttingen, wo sich Fuchs und Hase „gute Nacht“ sagen.
Die Gegend ist wunderschön. Zu jeder Jahreszeit, würde ich sagen. Wenn das Wetter schön war, liessen Martin, der Gastgeber und ich, Arbeit Arbeit sein, packten den Rollator auf die Rückband seine Cabrios - das muss ein herrlicher Anblick gewesen sein! - und fuhren unter andrem zur Mühle von Max und Moritz, zum Welfenschloss oberhalb von Herzberg, durch den Harz, oder wir legten in einer der schönen Städtchen Kaffeepausen ein.
Und abends gab es dann Tee mit Andi oder eben „tea for two“. Ich meine, was sollte man sonst tun in der Wildnis, als auf dem Balkon zu sitzen und den bats zuzuschauen („Bats? what‘s a bat? Oh, batman.“). Oder in einer der Küchen Trauben zu essen oder Brot mit Kresse. Und damit etwas für die gesunde Ernährung zu tun. Wir sprachen über Kurzgeschichten (er schrieb Science-Fiction-Stories) und anderes, aber nur selten über Physik. Man ist im Grunde genommen eben doch die Konkurrenz, vor allem wenn man mit dem gleichen Instrument arbeitet, auch wenn man andere Phänomene untersucht. Man lässt sich einfach nicht gerne in die Karten schauen. Übrigens etwas, das ich erst mal lernen musste. So wie vieles andere auch, wie Einsatz der Ellbogen, sich nicht reinpissen lassen. Man könnte letzteres auch anders ausdrücken, aber mir ist es original am liebsten. Forschung ist nun mal ein hartes Geschäft.
Item. Andis Mail kam heute. Er wird zwei Tage in der Stadt sein und wenn alles klappt, werden wir wieder in der Küche sitzen und Tee trinken. Es wird nicht ganz das Gleiche wie im Gästehaus des Maxl. Aber ein Altersheim könnte auch seinen Reiz haben für solche Anlässe.

blühendes Unkraut

Die Reaktion auf meine Texte sind durchzogen. Manchen gefallen sie, manchen gar nicht (die wird es auch geben, sie behalten es einfach für sich), und andere wiederum geben mir durch die Blume zu verstehen, dass sie eigentlich mehr erwartet hätten. Tiefgründigeres.
Tiefgründigeres als zum Beispiel Geschichten über Unkraut auf dem Balkon. Und erst recht Tiefgründigeres als Fehlinformationen in den Geschichten über Unkraut auf dem Balkon.
Es ist nämlich so. Der Löwenzahn, der inzwischen fast einen halben Meter hoch ist, viele Knospen gebildet hat, aber wegen der Kälte und der fehlenden Sonne nur bescheiden blüht, ist - man ahnt es, nicht nur wegen der Grösse - gar kein Löwenzahn.

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Der Name dieses Unkrauts will mir à tout prix nicht einfallen.

Was das Triviale angeht: Abgesehen davon, dass das Leben zum grössten Teil daraus besteht. Wenn man schreibt, und den Text so platziert, dass ihn theoretisch jeder lesen kann, dann begibt man sich auf Neuland. Wo man sich zuerst mal zurechtfinden muss, und ein Gefühl bekommen, was in etwa angebracht ist, und was nicht. Und man muss seinen Stil finden bzw. seinen Stil der neuen Form anpassen. Auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht.
Zugegeben, ich stellte es mir einfacher vor. Das Anpassen und das Schreiben.

Jedenfalls, bevor man sich an die grundlegenden Dinge heran wagt, muss das Triviale und Alltägliche als Übungsfeld herhalten. Und vielleicht findet man dabei heraus, dass es genau das ist, was einem und das Leben allgemein, ausmacht. Und schlussendlich interessanter ist, als „allgemeine Betrachtungen über den Sinn des Lebens“.

Ohne Worte

In den letzten Tagen habe ich versucht, meine Erfahrungen mit dem Hirnstamm-Implantat (Auditory Brainstem Implant oder kurz ABI) aufzuschreiben. Wobei Erfahrungen nicht ganz richtig ist. Denn trotz optimaler Voraussetzungen (physisch und psychisch) vor der Operation und ebenso guter Platzierung der Elektroden am Hirnstamm während der Operation, wollte die Sache nach der Operation nie funktionieren. - Nota bene: man sollte sich nie zu schnell in Sicherheit wähnen.

Inzwischen habe ich erfahren, dass nicht mehr implantiert wird nach einer Bestrahlung am Kopf. Und das bestätigte meinen Verdacht, dass der Reinfall etwas mit der Bestrahlung fünf Jahre zuvor zu tun hatte, oder mit grosser Wahrscheinlichkeit haben könnte. Auch wenn die Ärzte meinten, keinen Zusammenhang zu sehen. Ich hatte damals keine Lust auf eine lange Diskussion und lies die Angelegeneheit auf sich berufen.

Etwa ein Jahr nach der Operation fragte man ich, ob ich mein ABI - oder trifft „Das ABI in einem Kopf“ eher zu? - für Untersuchungen zur Verfügung stellen. Man wollte mit Hilfe funktioneller Kernspintomographie herausfinden, wie genau simuliert wird. Und das auch Aufschluss über die Fehlleitungen der Impulse geben könnte. Ich sagte zu, mehr aus Pflichtbewusstsein, auch mir selber gegenüber. Und dann war da noch der Gedanke: es ist ja schon da, wieso also nicht nutzen? Trotzdem war ich froh, dass die Sache im Sand verlief.


Pressemitteilung vom 23.November 2000:

Erstes Hirnstamm-Implantat in der Schweiz

Im UniversitätsSpital Zürich wurde als schweizerische Premiere erstmals zwei Patientinnen ein Hirnstamm-Implantat eingesetzt. Dieses erlaubt Patienten mit einer speziellen vererbten Erkrankung, trotz fehlendem Gehör wieder Geräusche wahrzunehmen. weiter ...
(Die Premiere war zu 50% ein Erfolg. Immerhin. Ich war übrigens die Zweite.)


Anfang der 90er Jahre las ich zum ersten Mal vom ABI. Eine Freundin meiner Mutter, die im Spital arbeitet, hatte ihn für mich kopiert. Damals begannen die klinischen Tests und der Erfolg liess auf sich warten. Ich war seit gut zwei Jahren taub, und hatte mein erstes Semester an der Uni hinter mir. Und ich war dabei, zumindest einen Fuss nach Bern zu setzen. In dieser Zeit der Veränderungen konnte ich mich nicht auch noch auf ein medizinisches Experiment einlassen, das mir zwar einen Teil meines Gehörs wieder geben könnte. Und mit welchem Erfolg? Zudem stand ich Hightech in der Medizin immer schon skeptisch gegenüber. Hören um jeden Preis? Oder wie hoch darf er sein? Damals war für mich klar, Elektroden am Hirnstamm, das war zu viel. Ich übergab den Zettel dem Altpapier und vergass die Sache.


Acht Jahre später kontaktierte mich das Unispital Zürich, als mögliche Kandidatin fürs ABI. Sie fragten mich, ob ich Interesse hätte, mich testen zu lassen. Ich hatte meine Meinung zwar nicht geändert bezüglich Hightech und Medizin und Grenzen. Aber ich hatte ein Studium hinter mir und eben mit der Diss angefangen. Und der Gedanke, letztere auch noch ganz ohne akustische Hilfe zu schaffen, gefiel mir gar nicht. Man kann sich eh nicht vorstellen, nie mehr hören zu können. Genauso wie man sich nicht vorstellen kann, dass man mit jeder Sekunde dem Ende des Lebens einen Schritt näher kommt, unwiederbringlich.

Und wenn einem dann eine Möglichkeit angeboten wird, vielleicht doch wieder hören zu können, auf welche Art auch immer, wie reagiert man? Ich habe inzwischen ein paar Leute kennengelernt, die sich erfolgreich operieren liessen. Trotzdem waren nicht alle zufrieden. Einer war sogar enttäuscht. Lässt man sich also operieren, lässt man sich auf etwas ein, dessen Ausgang in verschiedener Hinsicht ungewiss ist. Und so ist es naheliegend, dass man sich schützt. So gut es geht.

Ich vermied damals im Sommer 2000 lange Diskussionen. Ich sprach allgemein nicht oft darüber. Und es gab auch keine „Pro und Kontra“-Listen. Mir war, seit ich den Brief aus dem Briefkasten fischte, klar, dass ich mir diese Möglichkeit nicht vorenthalten darf. Andererseits wusste ich, dass es keine Garantie gab. Und da ich keine Lust hatte. im Falle eines Scheiterns in ein Loch zu fallen, ging ich die Sache nüchtern an, auf eine Art emotionslos. Man hätte meinen können, ich sei gar nicht beteiligt. Sondern Zuschauer. Das war meine Art, mich zu schützen.

Ich machte die nötigen Tests und liess mich dann im September 2000 operieren. Fünf, sechs Wochen später, an meinem 29. Geburtstag, war dann ds Switch-on. Es passierte nicht nichts. Aber nicht das, was beabsichtigt war. Also keine akustischen Eindrücke. Dafür bei genügend grosser Intensität ganz feine Muskelkontraktionen am Rücken oder am Oberschenkel, je nach Elektrode, die stimuliert wurde.

In den Monaten darauf, in denen meine Haare wieder wuchsen (meine Frisur war nach der Operation nicht mehr zu retten und so wurde alles auf vier Millimeter gekürzt. Das war schräg und fühlte sich auch so an), nahmen wir noch ein paar weitere Anläufe. Aber es änderte sich nichts. Als ich dann den Termin für Mai absagte und keinen neuen mehr vereinbarte, war klar, dass das Kapitel zu Ende ist. Ich war erleichtert. Auch darüber, dass ich den Zeitpunkt des Endes selber bestimmen konnte. So war ziemlich sicher, dass ich dann nicht noch Nächte lang wach lag und mich fragte, ob man nicht mit noch mehr Einsatz und so weiter.

Ursprünglich wollte ich einen etwas längeren Text zu schreiben, ausserhalb des Blogs. Einen Titel hatte auch schon: „Kein Ohr - nirgends?“. Diese Wortschöpfung ist nicht von mir. Aber von mir geklaut und angepasst. Geklaut von Christa Wolf. Eines ihrer Bücher heisst „Kein Ort. Nirgends“. Ich habe es nicht gelesen, dafür „Kassandra“. Für die Matur. Ein schönes Buch, aber sehr anstrengend zu lesen. Und als ich mich noch etwas mit Christa Wolf auseinandersetzte, mit ihrer Biografie und Bibliografie, stiess ich unter anderem auf „Kein Ort. Nirgends.“, Und dieser Titel blieb in meinem Gedächtnis hängen.