Fussnägel

Ssskkk... Die Nagelschere trennt in Bruchteilen von Sekunden den ein paar Millimeter langen Fußnagel entzwei. Das abgetrennte Stück fliegt quer durchs Zimmer. Doch sie macht sich nicht die Mühe, es einzusammeln. Wozu auch. Schliesslich würde diesem Stück Hornhaut mitten in all dem anderen Dreck, welcher sich in den letzten Monaten angesammelt hatte, keiner Beachtung schenken.
»Ob es ein Maximum gibt? Ein Maximum an Schmutz?» Sie spricht leise und lächelt dann spöttisch, und wird dann wieder ernst. »Ich werde es schon mal rauskriegen.«
Ssskkk... und wieder fliegt ein Stück durch das Zimmer. Dieses Mal macht sie sich nicht einmal die Mühe, dem kleinen Rest ihrer Hornhaut nachzuschauen.
Einen kurzen Moment danach durchfährt sie eine Art Fröhlichkeit, und zaubert ihr ein Grinsen aufs Gesicht. Sie legt die Nagelschere beiseite und greift nach dem halb gerauchten Joint. Sie steckt ihn in den Mund und hält ein brennendes Streichholz davor. Sie nimmt einen ersten Zug und inhaliert tief. Sie schliesst die Augen, und beginnt, sich im Takt der Musik, die sie sie durch den Fussboden hindurch fühlen kann, zu bewegen.

»Meine Hände und meine Füsse sind jetzt meine Ohren.», hat sie mal gesagt, und gelacht. Ihr Gegenüber hat geschwiegen und betreten zur Seite geschaut. Für einen kleinen Moment ist Traurigkeit in ihr aufgestiegen. Bin ich ein normaler Mensch mehr, hat sie sich damals gefragt.
Ihre Schultern entspannen sich. Die Augen immer noch geschlossen, tastet sie nach dem Lautstärkeregler und dreht ihn bis an den Anschlag. Se lehnt ich zurück. Ihre Trommelfelle vibrieren, und in ihrem Kopf dröhnt es. Fetzen ihrer Lieblingsstücke, Relikte aus vergangenen Zeiten. Sie geniesst den leichten Schmerz, den die laute Musik verursacht. Das ist doch Blödsinn, geht ihr durch den Kopf. Doch in der Welt, in der sie jetzt lebt, bedeutet Blödsinn ein Mangel an Artikulationsfähigkeit. Ein Mensch, der gelernt hat, sich perfekt zu artikulieren, ist im Stande ein Leben zu leben, ohne je Blödsinn von sich zu geben. Zumindest theoretisch. Sie lacht unhörbar. »Unglaublicher Blödsinn.« Dann auf einmal verschwindet ihre Fröhlichkeit so schnell, wie sie gekommen ist. Und sie widmet sich wieder ihren Füssen. Nachdem auch das letzte Stück Hornhaut im Irrgarten des Drecks seinen Platz gefunden hat, kommt es ihr vor, als wären Stunden vergangen.
Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass er jeden Augenblick kommen kann. Und sie sitzt immer noch da im ausgeleierten Slip und ihrem Lieblingsunterhemd, das auch schon bessere Tage gesehen hat, auf dem alten Sofa. Der Versuch sich zusammenzureissen misslingt, und kurz darauf meldet sich die Türklingel.
Er steht im Türrahmen, und hält eine Flasche billigen Weins in der linken Hand. Er ist etwas untersetzt und mollig, mit dunkel- blondem Haar und grossen dunkellauen Augen. Sein Gesicht ist oen und verrät ein gewisses Leid, welches jedoch nur jene sehen, die es selbst durchleiden, oder mal durchlitten haben. Er mustert sie von oben bis unten. Ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. Sie lässt ihn eintreten und schliesst die Tür. Das Schließen der Tür wirkt wie das Einschalten zweier Magneten, die sich unweigerlich anzogen. Ihre Hände umklammern seinen Körper, und seine ihren. In diesem knisternden Moment der Erregung entgleitet ihm bedauerlicherweise ein lauter Furz. Und ein schier unglaublicher Gestank vermischt sich mit der schon mugen Zimmerluft. Seine Erregung verschwindet wie die Form eines Maikäfers unter einem Vorschlaghammer. Er läuft rot an und reibt mit den Finger der rechten Hand kurz über den linken Handrücken. Das Zeichen für Entschuldigung. Sie winkt ab, legt Zeige- und Mittelfinger ihre rechten Hand unter ihr Kinn. Lässig und schwungvoll lässt sie diese nach vorne gleiten. Kein Thema gibt sie ihm damit zu verstehen. Eine der wenigen Gebärden, die sie beherrscht.
Seine Gesichtszüge entspannen sich. Sie nimmt ihn bei der Hand, und gibt ihm zärtlich einen Kuss. Diese Situation überrascht sie nicht sonderlich. Sie ist typisch für ihr Leben. Immer kurz vor der Ziel macht ihr etwas einen Strich durch die Rechnung. Oder sie glaubt es zumindest. Bis jetzt. Denn plötzlich wird ihr klar, dass sie die Wahl hat. Und das Gefühl der Freiheit, das sich auf einmal in ihr ausbreitet, ist wie eine Erlösung.

2006 by B. Bozanic und K. Bamert