Ein Dienstag
Es war recht früh. In der Nacht waren die Temperaturen gefallen, und der Himmel war wolkenverhangen. Sie ging in die Küche, wusch die Kaffeekanne ab, füllte Wasser ein und gab viel Kaffeepulver ins Sieb. Der Kaffee musste stark sein, mit viel Milch. Sie nahm die Tasse und setzte sich an den kleinen runden Tisch im Wohnzimmer. Es war noch nicht fertig eingerichtet. Sie war immer noch auf der Suche nach einem Esstisch und einem bequemen Sofa. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Und bald ging der Regen in Hagel über. 'Mein Coiffeurtermin', dachte sie, 'Soll ich ihn verschieben?'. Ein Blick in den Spiegel genügte, und sie beschloss abzuwarten. Als sie gegen zehn Uhr vor die Haustür trat, begann die Sonne durchzudrücken und es roch nach Schnee. 'Furchtbar! Es ist Mai' schimpfte sie in Gedanken.
Sie kam pünktlich, und verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, einen Espresso zu trinken, all die Chemie, die die Farbe auf ihrem Kopf verströmte, einzuatmen, und die neusten Ausgaben von “Inside” und “Cosmopolitan” zu lesen. Genau die richtige Lektüre, wenn man dank der zahlreichen Alufolienstücke im Haar wie ein gerupftes Huhn aussah. Flirttipps von Profis stand da und dabei war ein Foto. Sie lachte und tippte darauf: “Das ist mein Cousin. - Ich sehe ihn öfters irgendwo auf Fotos als in natura. So ein Mist” - “Er gleicht meinem Vater immer mehr.”, sagte sie mehr zu sich selbst.
Am Mittag war sie verwandelt in einen kurzhaarigen Rotschopf. Und es war ihr egal, dass ihre Frisur nicht so zu den blauen Socken in ihren schwarzen Survivalsandalen passen wollte. Es war ja auch nicht ihre Schuld, dass das Thermometer nur knapp zehn Grad anzeigte.
Sie ignorierte das verlockende Angebot im Body Shop, und ging durch die Lauben zurück zum Bahnhof. Da Rolltreppen inzwischen zu riskant war, musste sie mit dem Lift, den sie nur noch 'Pissoir' nannte, in die Bahnhofunterführung fahren. Es stank meistens furchtbar. Entweder penetrant nach Urin oder, was noch schlimmer war, nach Urin und scharfem Desinfektionsmittel. Sie holte tief Luft, hielt sich die Nase, betrat den Lift und drückte auf den Knopf.
Zwischen Dönerbuden, Strassenzeitungsverkäufern, einer Bankfiliale, einer Bäckerei, kleinen Ständen, die Schmuck und anderes anboten, McDonalds und bettelnden Junkies kam ihr die Idee, sich endlich zurückzumelden, und Andreas einen kurzen Besuch abzustatten,
Sie hatte ihm ein paar Tage zuvor geschrieben, in dem zwischen ihnen üblichen lockeren Telegrammstil: “Ich bin zurück. Und ich möchte gerne wieder bei dir arbeiten. Das Geld bringe ich mit.”. Förmlich ging es nur zu und her, wenn er meinte, verärgert sein zu müssen.
Sie klopfte an die Tür, drückte die Türfalle nach unten und zog. Die Tür gab nach. Sie hatte Glück. Er war da.
Als er sie sah, stand er auf und schüttelte ihr die Hand. Er schien sich zu freuen, sie wiederzusehen. Er war sehr gross, wirkte sympathisch und streng zugleich. Er hatte den Ruf ein schwieriger Chef zu sein. Er mochte Unterwürfigkeit gar nicht und sagte, was Sache war. Sie hatte das bald gemerkt. Und er schien jedes Mal amüsiert, wenn sie ihm Paroli bot.
Er trug ausgebeulte Jeans, ein kariertes Hemd und seine Füsse steckten ebenfalls in Sandalen, inklusive Socken.
“Wie lange bleibst du?” - “Ich wohne wieder hier.”. Und etwas später: “Ich erzähle am Freitag etwas über Sizilien.”. Sie mochte die Sitzungen am Freitag Morgen. Sie assen immer Kuchen. “Ich werde auch kommen.”. Sie nahm ihre Tasche. “Bis bald”.
Sie verliess das Gebäude. Auf der grossen Terrasse blieb sie stehen, und schaute auf die Stadt. Unten fuhren die Züge im Minutentakt ein und aus. Aber in ihrem Kopf war es still. Und sie genoss es in diesem Moment. Am Münster klebte wieder ein Baugerüst. Gut drei Jahre zuvor war es nach fünfzig Jahren endlich entfernt worden. Wahrscheinlich ging es einfach nicht ohne. Eiger, Mönch und Jungfrau waren nicht zu sehen.
Sie dachte an jenen unbeschwerten Sommer vor zwölf Jahren. Sie wohnte im alten Studentenhaus im 19. Stock. Ihr Zimmer war in der ehemaligen Wohnung des Hauswartes, und im Bad stand eine Badewanne. Die Wände des grossen Wohnzimmers waren farbig gestrichen. Das Rot ging von oben nach unten in Geld und dann in Grün über. Die verschlissene Couchgarnitur war gross und sehr bequem. Ergänzt wurde sie durch einen Tisch, bestehend aus vier Kugeln, die von einem Holzring gehalten wurden und einer Glasplatte darauf. Auf den Metallkugeln lag jeweils ein farbiges Kondom.
Sie verbrachten die Abende diskutierend und rauchend auf dem Balkon, suchten nach Sternbildern und sahen den Mond hinter den Bergen aufgehen. Und morgens färbte die aufgehende Sonne den Himmel rot, und die Berge zeichneten sich dunkel ab, rechts die Zweitausender, links die Viertausender. Ein wunderbarer Anblich, den sie später sehr vermissen sollte.
Sie verliebten sich, stritten sich, trennten sich und kamen wieder zusammen. Sie kultivierten Schimmelpilze in Töpfen mit übriggebliebenen Spaghetti, verzierten die Wände mit geklauten Plakaten. Sie liessen Peperoni im Kühlschrank verschimmeln, assen die Joghurts, die nicht die eigenen waren, suchten immer wieder vergeblich nach einer sauberen Pfanne, und brachten die Putzfrauen dazu zu streiken. Oft verbrachten sie die Nachmittage im nahegelegenen Schwimmbad zwischen Autobahn und Bahngeleise. Sie guckten Fussball, grillten auf der Dachterrasse, genossen die luftige Höhe und die Abwesenheit der Mücken.
Und als es Herbst wurde, begannen sie, getrennte Wege zu gehen.
Sie war müde und machte sich auf den Weg. Sie stieg eine Haltestelle früher aus und spazierte zur Bar..
Es dauerte gut ein Jahr, bis sie sie entdeckte. Im Nachhinein konnte sie sich das nicht erklären. Auch die Brasserie gleich neben ihrer Wohnung mied sie lange. Sie fühlte sich am Anfang fremd in diesem Quartier und gleichzeitig war sie fasziniert von den Kneipen, den kleinen Läden, von den verwilderten Hintergärten und von den Sprayereien an den Hauswänden und Türen.
Als sie die Tür öffnete, erschien Mobas Kopf neben der Kaffeemaschine. Sie begrüsste ihn. “Schale?”, er sah sie fragend an. Sie nickte, und setzte sich an einen Tisch.
Vor zwei Tagen sass sie auch hier, als sie sich mit Peter unterhielt. Er zeigte ihr einen Brief. “Nicht kooperativ”, er tippte auf die entsprechende Stelle des Textes und schlug dann die Faust auf den Tisch. Seine persönliche Auslegung des Asylgesetzes amüsierte sie schon länger. “Aber, es stimmt schon. Er ist nicht kooperativ. Seit über drei Jahren ist er immer noch hier, und arbeitet. Stell dir das mal vor.”. Sie sah in mit gespielter Unschuldsmiene an. “Ganz schön frech. - Kein Wunder, dass unser Justizminister das gar nicht gerne sieht.”
Mohamed stellte den Milchkaffee vor sie, und setzte sich mit einem kleinen Imbiss zu ihr. “I am a white man now, because I eat salad and Gipfeli” schrieb er auf den kleinen Notizblock, und schob ihn zu ihr. Er lachte, und entblösste dabei seine Zahnlücke.
Am Abend telefonierte sie mit Claire, wie üblich ihrem in die Jahre gekommenen Schreibtelefon. “Ja, schreib doch mal ein Buch.”, tönte es aus dem Südwesten des Landes, “Etwas mit Humor. Da würde ich dich wiedererkennen.”, “Ja, ... oh ... Lieber schreibe ich Briefe. Aber ich kann es ja versuchen.”, tippte sie und grinste. “Schön. Ich will es dann mal lesen, gell. Und, damit ich es nicht vergesse. Gestern war ich bei Michel. Es war mir aber nicht ganz klar, was du brauchst. Blätter? Eine ganze Pflanze?”. - “Getrocknete Blüten wären prima.” - “Kann ich dir das mit der Post schicken?”. Sie fingen an zu lachen, beide. “Nun, wenn du es gut verpackst, dann sollte das schon gehen. Und besser auf den Absender verzichten. Falls es schief geht, wandere nur ich ins Gefängnis.”
Es war dunkel geworden. Einzelne Lichter brannten. Sie öffnete das Fenster und atmete durch. Sie liebte diesen typischen Stadtgeruch. Eine fast widersprüchliche Mischung aus frischer Erde, verfaultem Laub, Staub, Asphalt und Pizzeria.